Die Revolution ist großes Kino

Mark-Christian von Busse, HNA.de, 2013-02-10

„Die Wirklichkeit ist manchmal ganz großes Kino“, sagt der Polizist (Andreas Jeßing). Das ist der faszinierende Grundgedanke der 60er-Jahre-Revue „Zur Sache!“, die das Künstlerkollektiv andcompany&Co. am Samstagabend als freundlich beklatschte 90-minütige Uraufführung auf die Bühne des Deutschen Theaters in Göttingen gebracht hat.

Wie haben Filme die studentenbewegten 68er widergespiegelt und inspiriert? Nehmen wir Protest und Provokationen jener Jahre eher wie ikonische Kinobilder wahr, die sich längst von der Wirklichkeit gelöst haben? Was bleibt vom Ursprung dieses Versprechens einer besseren Gesellschaft, die am Ende herbeigeschossen und -gebombt werden sollte?

„Die Toten sind immer da, immer um uns herum“, sagt zu Beginn, vor einer Wellblechwand, die bald die von Jan Brokof gestaltete Bühne freigibt, ein Wiedergänger des Kabarettisten Wolfgang Neuss (Lutz Gebhardt). Fakten und Fiktion, Film und Leben vermischen sich: Neuss zählt ebenso zum Personal dieser mitunter auch sehr klamaukigen Vergangenheitsbefragung wie der Wortführer der Studentenrevolte, Rudi Dutschke (Andreas Daniel Müller), Brigitte Bardot und Jeanne Moreau, „Schwestern der Revolution“ aus Dutschkes Lieblingsfilm „Viva Maria!“ von Louis Malle (Sarah Schermuly, Andrea Strube) sowie „Gammler“ Martin, Hauptdarsteller des Uschi-Glas-Films „Zur Sache, Schätzchen“ (Karl Miller).

Sie alle haben starke Szenen, spielen toll: Deklamieren Parolen, fuchteln mit Pistolen, machen den Reiz der Rebellion, der Gewalt spürbar: Alles muss umgestürzt werden.

Sketschartig blitzen berühmte 60er-Jahre-Momente auf. Wie in einem bizarren Fiebertraum beginnt ein Stimmengewirr, Jean Paul Belmondo, John Lennon tauchen auf, „Enteignet Springer“ und die Ermordung von Benno Ohnesorg, Napalmangriffe auf Vietnam sowie die Quizshow „Der goldene Schuss“ im TV. Am Horizont geht die rote Sonne auf. Doch die anspielungsreiche Nummernfolge kulminiert zu Spaghetti-Western-Musik im wilden Geballer, als sei’s ein Film von Tarantino. „Es wird böse enden“, verkündet schon der Titel des Programmhefts.

Aber da muss doch was gewesen sein, heißt es zum melancholischen Mary-Hopkin-Song „Those Were The Days“, das war doch unser Leben. Was hat Bestand? Was könnte heutige Empörung, einen kommenden Aufstand befeuern?

„Utopien und Erinnerungsfetzen werden aufgegriffen und auf ihren Mehrwert überprüft“, steht im Programmheft über das 2003 gegründete lose Netzwerk andcompany&Co., das 2009/10 in Göttingen bereits die Produktion „Wunderkinder“ realisierte und dem DT-Chefdramaturg Lutz Keßler zur Hand ging. Die Gegenwartsbezüge – Urherberrechtsdebatte, Occupy-Besetzungen, Netz-Shit-storms – zeigen aber vor allem, wie ferngerückt der Furor und Zorn, aber auch der selbstgewisse Optimismus der 68er sind.

Gleich zweimal darf Rudi Dutschke sagen, Revolution sei „nicht eine Sache von Tagen, wo geschossen wird und Auseinandersetzungen stattfinden“, sondern ein „langer, komplizierter Prozess, wo der Mensch anders werden muss“. Es ist eine uneingelöste Utopie.

HNA.de

Wars das?

Michael Laages, nachtkritik.de, 2013-02-10

Zugegeben – wer, sagen wir mal, kurz vor Mauerfall geboren ist, wird zu Beginn des neuen Historien-Spektakels von andcompany&Co. am Deutschen Theater in Göttingen womöglich einige Schwierigkeiten mit dem Personal bekommen. Klar, John Lennon ist eine der ewigen Ikonen des vorigen Jahrhunderts und auch nach seiner Ermordung vor bald 33 Jahren allemal wiedererkennbar; auch wenn gegen Ende keine Yoko Ono neben ihm sitzt beim friedensfördernden "bed in" anno 1969 in Amsterdam, sondern ein junger Mann, der den ganzen Abend als "Rudi Dutschke" ausgewiesen wird. Rudi who? Klar – die Kino-Schauspielerinnen Brigitte Bardot und Jeanne Moreau leben beide noch, 80 wird Bardot im nächsten Jahr, 85 Moreau in diesem; aber dass Louis Malles Film "Viva Maria" von 1965 Dutschkes Lieblingsfilm war auf dem Weg der deutschen Revolte vor 1968: wer weiß das schon?

Nachdenk- und Erinnerungsfutter

Und wer war eigentlich Martin, der 1959 als einer der ersten konsequenten Gammler das Bett nicht mehr verließ und unter Decke nichts als coole Sprüche abließ – angeblich gab’s einen Film über ihn, der "Zur Sache Schätzchen!" hieß und DER deutsche Kinohit des Jahres 1968 war. Weiß jemand mehr? Wer ist schließlich dieser wunderliche Moderator, der zu Beginn das Publikum immer als "meine goldigen Landsleute" anquatscht; dieser alternde Hippie mit Haaren bis zum Arsch und zuweilen derart auf Gras-Droge, dass er sich für seine eigene Frau hält – das ist "Wolfgang Neuss". Tja. Hm. Interessant.

Vielleicht überschätzen Nicola Nord und Alexander Karschnia, Bühnenbauer Jan Brokof und Musiker Sascha Sulimma ja die historischen Vorkenntnisse der Kundschaft gewaltig. Sicher: Wer die vielen Typen und alltagskulturellen Assoziationen zuordnen kann, etwa die ZDF-Show mit dem beunruhigend doppelsinnigen Titel "Der Goldene Schuss", der bekommt am Deutschen Theater in Göttingen an einem Abend Nachdenk- und Erinnerungsfutter für mindestens drei oder vier Folgenächte, allein oder zu zweit; doch wer auf die hilfreichen Texte im Programmheft angewiesen ist, mag zuweilen auch außen vor bleiben wie der Ochs vor’m Tor.

Der goldene (Dutschke-)Schuss

Zur Sache – der Hippie Neuss, verstorben kurz vor Mauerfall 1989, kommt zu Beginn schon aus dem Jenseits zu uns herüber, und er bringt sogar den alten Kumpel Wolfgang Müller mit, der als Hobbyflieger bei einem Absturz aus nicht sehr großer Höhe zu Tode kam. Neuss reflektiert den eigenen Ausstieg – wie der Kino-Martin anno 1959 (der jetzt auftritt) wurde er, Neuss, später zum Gammler, saß daheim in der Berliner Lohmeyerstraße 7 und ließ sich von besten Freunden aushalten. Die "Viva Maria!"-Frauen poltern ins Bild und sprengen mal hier und mal da was, und schnell beginnt in dynamisch montierten Szenen das deutsche Gesellschaftspanorama der Zeit: mit den Berliner Demonstrationen gegen den Schah von Persien 1967 und dem an deren Rand ermordeten Studenten Benno Ohnesorg aus Hannover, mit dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke ein Jahr später zu Ostern. Perfide und polemisch lassen andcompany&Co. den Dutschke-Schuß des Arbeitslosen Josef Bachmann als Siegerschuß in der ZDF-Show ausführen, wo zuvor rauf und runter Szenen, Mono- und Dialoge der theatralischen Weltliteratur geraten wurden.

Keine Sorge – "Zur Sache" ist (bei aller historischen Last auf den Schultern) frech und fröhlich, der Grundton des Berliner Kollektivs ist wie immer eher ironisch und grotesk. Aber deutlich wird eben auch, dass eine Handvoll bedeutender Toter den Befreiungsprozess der zwischen Verbot und Verdrängung eingezwängten westdeutschen Nachkriegsrepublik begleiten. Hatte nicht Martin, der ewige Faulenzer immer wieder finster geulkt: "Es wird böse enden!" … der Satz war ernst zu nehmen.

Stoff für einen dritten Teil

Auch er sollte ja – wäre es nach dem Drehbuch der Regisseurin May Spils und Hauptdarsteller Werner Enke gegangen – m Film sterben wie Jean-Paul Belmondo in Jean Luc Godards Nouvelle-Vague-Klassiker "Außer Atem". Aber dann war der tote Benno Ohnesorg noch zu frisch in Erinnerung, und Film-Schluss und Schuss wurden geändert: Martin blieb leicht verletzt. andcompany&Co. drehen dieses Hin und Her der Entscheidung (oder Zensur) durch die Rückblenden-Maschine. Dann folgt das "bed in", mit Lennon und Dutschke – und schließlich dem letzten Toten des Abends. Auch Wolfgang Neuss zieht sich da wieder ins durchrauchte Nirwana zurück. "Zur Sache!" kam das Personal von damals nur in engen Grenzen – was "Zur Sache!" heute bedeuten könnte und müsste, außer Marx lesen und Attac unterstützen, bleibt fürs erste ungeklärt. Vielleicht wird ja noch eine Göttinger Trilogie draus.

Schon zum zweiten Mal (nach "Wir Wunderkinder", dem Film von Kurt Hoffmann) haben andcompany&Co. in Göttingen das dort engagierte Ensemble animiert; und auch wenn gelegentlich ein wenig viel geschrieen wird, macht das Zuschauen Spaß. Sarah Schermuly und Andrea Strube sind prächtige Marias, Lutz Gebhardt ist ein schildkrötkluger Neuss. Andreas Jeßing muss immer wieder Polizisten spielen, Andreas Daniel Müller müht sich achtbar mit Dutschkes grandiosem Dialekt, Karl Miller ist Martin, die Bettwurst. In Oldenburg bastelten andcompany&Co. aus Schiller-Material und in deutsch-niederländischer Ko-Produktion den derzeit reisenden Abend "Der (kommende) Aufstand". Die Gruppe wird spürbar unabhängig von den freien Spielstätten mit diesen Stücken für’s Stadt- und Staatstheater – und dem Profil hat es bislang nicht geschadet.
 

nachtkritik.de

Freches Historienspektakel

Michael Laages, dradio.de, 2013-02-12

Die Revue "Zur Sache" von andcompany&Co. in Göttingen liefert jede Menge Erinnerungsfutter

Das Berliner Theaterkollektiv andcompany&Co. nimmt sich in seinem neuen Stück "Zur Sache" die späten 60er-Jahre vor: Notorische Realitätsverweigerer treffen auf radikale Revolutionäre, deutscher Schlager auf politische Protestsongs.

Zugegeben – wer, sagen wir mal, kurz vor Mauerfall geboren ist, wird zu Beginn des neuen Historien-Spektakels von andcompany&Co. am Deutschen Theater in Göttingen womöglich einige Schwierigkeiten mit dem Personal bekommen. Klar: John Lennon ist eine der ewigen Ikonen des vorigen Jahrhunderts – auch wenn gegen Ende keine Yoko Ono neben ihm sitzt beim Friedens fördernden "bed in", sondern ein junger Mann, der den ganzen Abend zuvor als "Rudi Dutschke" ausgewiesen wird. Rudi who? Auch klar: Die Kino-Schauspielerinnen Brigitte Bardot und Jeanne Moreau leben beide noch – aber dass Louis Malles Film "Viva Maria" von 1965 Dutschkes Lieblingsfilm war: wer weiß das schon?

Und wer war eigentlich Martin, der 1959 als einer der ersten konsequenten Gammler das Bett nicht mehr verlässt und unter Decke nichts als coole Sprüche ablässt – angeblich gab’s einen Film über ihn, der "Zur Sache, Schätzchen!" hieß und DER deutsche Kinohit des Jahres 1968 war. Weiß jemand mehr? Wer ist schließlich dieser wunderliche Moderator, der zu Beginn das Publikum immer als "meine goldigen Landsleute" anquatscht; dieser alternde Hippie mit Haaren bis zum Arsch und zuweilen derart auf Gras-Droge, dass er sich für seine eigene Frau hält …

"Das ist "Wolfgang Neuss". Tja. Interessant. Und wer war das?"

Vielleicht überschätzen ja Nicola Nord und Alexander Karschnia, Bühnenbauer Jan Brokof und Musiker Sascha Sulimma die historischen Vorkenntnisse der Kundschaft; wer die vielen Typen und alltagskulturellen Assoziationen in dieser lose verbundenen Szenenfolge zuordnen kann, etwa die ZDF-Show mit dem beunruhigend doppelsinnigen Titel "Der Goldene Schuss", der bekommt am Deutschen Theater in Göttingen an einem Abend Nachdenk- und Erinnerungsfutter für mindestens drei oder vier Folgenächte, allein oder zu zweit.

Zur Sache – der Hippie Neuss, verstorben kurz vor Mauerfall 1989, reflektiert den eigenen Ausstieg. Wie der Kino-Martin anno 1959 (der jetzt auftritt) wurde er, Neuss, später auch zum Gammler, saß daheim in der Berliner Lohmeyerstraße 7, fragte rhetorisch "Wie werde ich unbekannt’" und ließ sich von besten Freunden aushalten. Die "Viva Maria!"-Frauen poltern ins Bild und sprengen mal hier und mal da was, und schnell beginnt in ziemlich dynamisch montierten Szenen das deutsche Gesellschaftspanorama der Zeit: mit den Berliner Demonstrationen gegen den Schah von Persien 1967 und dem ermordeten Studenten Benno Ohnesorg aus Hannover, mit dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke ein Jahr später zu Ostern. Den Dutschke-Schuss des Arbeitslosen Josef Bachmann übrigens lässt "andcompany&co" übrigens als Siegerschuss in der genannten ZDF-Show ausführen. Das hat was.

Keine Sorge: "Zur Sache" ist bei aller historischen Last auf den Schultern polemisch und perfide, frech und fröhlich, der Grundton des Berliner Kollektivs ist wie immer eher ironisch und grotesk. Aber deutlich wird eben auch, dass eine Handvoll bedeutender Toter den Befreiungsprozess der zwischen Verbot und Verdrängung eingezwängten westdeutschen Nachkriegsrepublik begleiten. Hatte nicht Martin, der ewige Faulenzer, immer wieder finster geulkt: "Es wird böse enden!" Der Satz war ernst zu nehmen.

Auch er sollte ja – wäre es nach dem Drehbuch der Regisseurin May Spils und Hauptdarsteller Werner Enke gegangen – im Film sterben wie Jean Paul Belmondo in Jean Luc Godards Nouvelle-Vague-Klassiker "Außer Atem". Aber dann war der tote Benno Ohnesorg noch zu frisch in Erinnerung, und Film-Schluss und Schuss wurden geändert: Martin blieb leicht verletzt. "andcompany&co" drehen dieses Hin und Her der Entscheidung (oder Zensur) durch die Rückblenden-Maschine. Und auch Wolfgang Neuss zieht sich da wieder ins durchrauchte Nirwana zurück.

"Zur Sache!" kam wohl schon das Personal von damals nur in engen Grenzen – was "Zur Sache!" heute bedeuten könnte und müsste, außer Marx lesen und "attac!" unterstützen, das bleibt fürs erste noch ungeklärt.

Vielleicht wird ja noch eine Deutsche Trilogie draus, mit dem mutigen Göttinger Ensemble samt andcompany&Co.

dradio.de