Kreuzberg liegt am Hindukusch

Anne Peter, taz.de, 2014-10-13

Der Mythos von Orpheus begegnet den Flüchtenden der Gegenwart in der "Schlepperoper" von andcompany&Co im HAU

Oranienplatz, Gürtelstraße, Gerhart-Hauptmann-Schule. "Das ist der Hindukusch – in Kreuzberg!", ruft Alexander Karschnia mit dringlich erhobener Stimme dem Publikum von "Orpheus in der Oberwelt. Eine Schlepperoper" im HAU2 zu. Hier scheint alles Um-die-Ecke-Denken abgelegt zu sein. Für einen Moment schwenkt das Kunstbemühen auf Appell um. Aber ja! Nicht in Sonntagsreden, sondern in unserem Umgang mit Asylsuchenden zeigt sich, wie Europa tickt.

Wir müssen dafür nicht nach Afghanistan, nicht nach Syrien schauen: Hier und jetzt in Berlin gilt es, unsere Werte zu verteidigen. Entpuppt sich die Oberwelt Europa heute für viele doch als bürokratische Hölle. Neben den Flüchtlingsdramen unserer Zeit sind die Orpheus-Opern von Monteverdi und Gluck das Sprungbrett für die politisch engagierte Diskursperformance.

Das Theaterkollektiv andcompany&Co. schaut mit dem Mythos in Richtung des antiken Thrakien, dorthin, wo heute Griechenland, Bulgarien und die Türkei aufeinandertreffen und die östliche Außengrenze der EU verläuft. 2010 sollen täglich rund 200 Flüchtlinge über den Grenzfluss Evros gekommen sein, viele ertranken. Frontex-Hilfe wurde angefordert, 2012 ein Grenzzaun gebaut.

In jenem Fluss, dessen Delta unzählige Vogelarten beheimatet, soll einst auch der Kopf des Orpheus geschwommen sein, nachdem ihn die wütenden Erinnyen zerrissen hatten. Der Mythos wird zur multifunktionalen Chiffre: Orpheus überquerte den Fluss zum Totenreich – wie die Flüchtlinge den Evros. Orpheus war geboten worden, sich nicht umzusehen – so wie wir Europäer uns kaum zurückerinnern an die Zeit, in der die Menschen aus Europa hinaus flüchteten. Die Erinnyen, das sind wir.

Sieben Performer in Regencapes, zwei davon klassisch gesangsfest, bevölkern als Schlepper, Vögel, Flüchtlinge die Flusslandschaft aus rollbaren Pappmaschee-Steinbrocken. Drei Musiker switchen mit Cello, Keyboard und Blasinstrumenten zwischen Vogelgeräuschkulisse, Oper und Brecht-Sound. Unter Solo Lectures, Arieneinsprengseln und Gruppengewusel mischen sich diverse Stilmittel und Zeichen: Ein verkehrtes Eurosymbol dient als Orpheus-Leier, und Conchita Wurst feiert man als "Mädchen mit Bart" und alternative "Eurovision" ab. Dass "kein Mensch illegal ist", wird mit schönstem Tenorschmelz gesungen – ein Effekt, der verlässlich für Lacher im Publikum sorgt, auch wenn er vielleicht eher als erhebend beabsichtigt war.

Der andcompany&Co. gelingen immer wieder eindringliche Szenen – etwa wenn die Performer mit großen Vogelkopfmasken wie verzweifelt unter ihren Regencapes mit den Flügelarmen schlagen. Oder wenn Komi Mizrajim Togbonou (im Edelmannsmantel) mit wütend blitzendem Blick von den "Feldern der Tränen und der Schmerzen" spricht, von Minenfeldern, die auf griechischer Seite die Schutzsuchenden abwehren sollen.

Klug gedacht ist vieles, szenisch zündet nicht alles, wirkt manches unnötig verkopft – nicht immer sind es Umwege, die zum Ziel führen. Stark ist der Abend, wenn er sich auf die akute Asylmisere zuspitzt und den Finger tief in unsere ethische Wunde bohrt.

taz.de

Orpheus an der Außengrenze der EU

Stefan Michalzik, fr-online.de, 2014-12-01

Hießen die nicht früher Fluchthelfer? Das Kollektiv andcompany & Co. zeigt seine spannende „Schlepperoper“ unter dem Titel „Orpheus in der Oberwelt“.

Der Ort des Geschehens ist der mythologisch besetzte Fluss Evros an der griechisch-türkischen Grenze. Allgemeiner geht es um die Außengrenze der EU, vor allem das Mittelmeer, in dem nach unterschiedlichen Schätzungen in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten 20 000 bis 80 000 Menschen umgekommen sind – ein anhaltendes Skandalon.

Als ,,Schlepperoper“ deklariert das vor elf Jahren in Frankfurt gegründete internationale Performancekollektiv andcompany & Co. das Stück „Orpheus in der Oberwelt“, das am Wochenende nun im Mousonturm zu sehen war, nach der Premiere am Berliner HAU im Oktober. Der Gattungsbegriff Singspiel wäre treffender gewesen. In der Hauptsache wird gesprochen, die Szenen reihen sich als Revue mit musikalischen Einlagen.
Mythologie und Trash

In dem mythologisch durchwirkten Spiel mit Trash-Charakter gibt das sechsköpfige Ensemble – darunter Mitbegründer Alexander Karschnia, der mit Nicola Nord den Text geschrieben hat – zunächst den Schleppern eine Stimme: als Wechsel der üblichen Perspektive. Alles nur Halsabschneider? Es wird daran erinnert, dass es zu Zeiten der DDR üblich war, Menschen dieses Berufsstands als ,,Fluchthelfer“ zu titulieren. Klingt gleich anders. Ehrenhaft. Geld wurde damals allerdings auch genommen. Warum auch nicht? Schließlich kann saubere Arbeit erwartet werden und es entstehen Kosten.

Die Musik bedient sich eines raffinierten Wechselspiels der Vermischung und Trennung von disparaten Stilen. Links ist der Komponist und Mitbegründer Sascha Sulimma mit elektronischem Gerät postiert, gegenüberliegend ein Instrumentaltrio um die Blockflötistin Susanne Fröhlich, den Cellisten Simon Lenski und Reinier van Houdt an Synthesizer und Cembalo. Elektrobeats geben den Grundton vor.

Claudio Monteverdis Arien werden zitiert, es klingt die Tradition des deutschen Kunstlieds an und der Songstil von Brecht/Weill sowie Hanns Eisler mit seiner proletarischen Marschmusik. Die Musik ist allzeit stilsicher, einen übergreifenden dramaturgischen Bogen lässt sie allerdings missen.

Es ist ein stetes Changieren zwischen einem ironisch-spielerischen Humor und einer nüchternen Klarheit der Fakten, mitunter scheinen Spuren eines aggressiven Pathos durch. Es gibt viel Applaus am Ende, natürlich ist der Saal mit einem kritisch-aufgeklärtem Publikum besetzt. Aufgerüttelt werden müssten eigentlich andere. Das aber ist die Krux des politisch motivierten Theaters – und heißt nicht, dass man es bleiben lassen sollte.

fr-online.de