UNRECHT

Vor siebzig Jahren gab es Deutsche, die sich verzweifelt fragten, welches Land sie noch aufnehmen würde. Aleppo war einer der letzten Zufluchtsorte für Verfolgte des Naziregimes. Die Bürgerbühne und das Junge Schauspiel erarbeiten mit der Performancegruppe andcompany&Co. einen Abend zum Thema »Emigration«, der auch eine Liebeserklärung an den berühmten »Schlepperfilm« »Casablanca« ist: In »Rick’s Café«, dem legendären Treffpunkt und Zentrum des Films, saßen Flüchtende aus Europa zusammen mit Schleppern, Schmugglern, Polizisten und Widerstandskämpfern – und warteten. Heute gehen die Flüchtlingsströme in die andere Richtung: nach Europa, nach Deutschland. Was geschieht da gerade mit den Menschen? Wie stellt sich die Situation aus der Sicht einer Rechtsanwältin dar, die sich seit Jahren für die Rechte der Geflüchteten in Deutschland engagiert? Berenice Böhlo, können Sie uns aus Ihrer Praxis berichten?

Ich kenne viele Fälle, die menschlich sehr bewegend sind. Frau S. und Herr M. aus Afghanistan haben mir neulich erzählt, wie ihre vierjährige Tochter Maryam geweint und sich geweigert hat, die Schwimmweste anzulegen. Sie wollte auch nicht in das Schlauchboot steigen, das die Familie von der Türkei nach Griechenland bringen sollte. Heute ist Maryam glücklich in ihrer Kita. Wer kann diesen Eltern absprechen, in voller Verantwortung ihrer Elternschaft in der Türkei in das Boot gestiegen zu sein? Wer kann Geflüchteten das Recht absprechen, nach einem Land zu suchen, in dem sie die Chance haben, als Flüchtlinge anerkannt zu werden und ein menschenwürdiges Leben zu führen?

Millionen Menschen verlassen ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Kinder. Kann ein nationales »Asylpaket« – und sei es noch so restriktiv – sie aufhalten?

Keine Grenzsicherung wird sie aufhalten, denn sie haben ohnehin keine Wahl. Sei es, weil der Krieg ihre Heimat zerstört, sei es, weil der Traum, sich ein Leben in Abhängigkeit von der eigenen Arbeit aufzubauen, der Traum, für sich und seine Kinder ein Dasein mit Perspektive auf Besserung zu führen, überstark ist. Ein Traum, der Motor menschlicher Entwicklung ist.

Ein Traum, für den ein Mensch alles tun wird: In »Casablanca« erleben wir, wie Pässe und Transitvisa gehandelt und verschoben werden, wie Menschen, um zu überleben, während ihrer Flucht zu Schleppern und Schmugglern, zu Opfern und Tätern werden. Würden wir anders handeln? Was geschieht mit den Menschen, die überlebt haben und hier angekommen sind?

Ein Teil von ihnen hat die Chance, ein neues Leben zu beginnen. Aber viele werden zu Menschen, die da sind, ohne da zu sein. Angekommen in Europa
und doch nicht angekommen. Nicht wissend, ob und wann sie ihre Familienangehörigen wiedersehen, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne Recht auf Arbeit, ohne ausreichende Gesundheitsversorgung.

Sie sind täglich im Gerichtssaal mit Flüchtlingsfällen befasst. Was erleben Sie dort?

In vielen Fällen geht es monatelang ausschließlich um Zuständigkeitsfragen, das kann sich auch über Jahre ziehen. Kann der Flüchtling in Deutschland bleiben oder muss er in ein anderes europäisches Land? Diese Verwaltungsverfahren sind weitgehend inhaltsleer. Ich erlebe, wie die Verwaltungen einen riesigen, sich um sich selbst drehenden Apparat schaffen, der nach seiner eigenen Logik agiert – und der zugleich eine eigene Logik generiert. Aber die Grundlage der Verfahren – das europäische Asylsystem – funktioniert nicht. Man kann nicht die Zuständigkeiten an die Außengrenzen verlagern, wenn die Staaten dort nicht über ausreichende Strukturen verfügen. Herr M. und Frau S. mit Maryam können dort nicht bleiben. Und sie sind nicht verantwortlich zu machen für das Scheitern des Asylsystems, nur weil sie flüchten.

Ursache und Wirkung werden in der öffentlichen Wahrnehmung verkehrt?

Diese Verkehrung von Ursache und Wirkung dominiert den gesellschaftlichen Diskurs. Das Urteil der politisch verantwortlich Handelnden ist meistens: Die zu Beginn unseres Gesprächs erwähnten Eltern handeln falsch und unrechtmäßig, wenn sie nicht bleiben, wo sie sind, oder nicht in das europäische Land gehen, in das sie sollen. Ihr Handeln sei menschlich zwar nur zu verständlich, aber im staatlichen Interesse müsse dies verhindert und sanktioniert werden. Es geht um Zahlen, nicht um Menschen. Europa nimmt den Tod unzähliger Menschen in Kauf, um das Primat der Grenzsicherung um jeden Preis durchzusetzen.

Theater in Deutschland beschäftigen sich mit der »Flüchtlingsfrage«. Sie spenden, organisieren Treffpunkte, öffnen ihre Bühnen. Sie setzen sich in Berlin und überregional für die Rechte der Geflüchteten ein. Was erwarten, was erhoffen Sie sich von den Theatern?

Wir brauchen das Theater, damit es uns die Geschichten des Unrechts immer und immer wieder erzählt, sodass wir intellektuell und emotional begreifen, dass wir alle genau wie Frau S. und Herr M. handeln würden. Nicht die Geschichte von »denen«, »den Flüchtlingen«, ist primär zu erzählen, sondern die Geschichte von Recht und Unrecht. Wir sind mittendrin in dem Problem. Die Theater können und sollen mehr tun, als sich sozial zu engagieren. Sie können sich auf ihr Kerngeschäft besinnen: das Geschichtenerzählen. Wie kann es sein, dass Vertreter des Bundesinnenministeriums, der Gerichte und der Behörden das Handeln von Frau S. und Herrn M. »menschlich« verstehen, daran aber keine Rechtsfolgen knüpfen, sondern stattdessen in ihrem Diskurs Legitimität und Legalität dieser millionenfachen Flucht negieren? Was genau beinhaltet dieses »menschliche Verständnis«? Wie kann es sein, dass in den Asylschnellverfahren der Einzelfall keine Chance mehr hat? Warum haben wir dann überhaupt diese Verfahren? Nach meiner Überzeugung kann Theater mit solchen Geschichten, selbst wenn es das Wort »Flüchtling« nicht erwähnt, den Keim einer veränderten, mitfühlenden und positiven Sichtweise auf flüchtende Menschen wachsen lassen, auf Menschen, die schon jetzt Teil unserer Gesellschaft sind und es in Zukunft immer mehr sein werden.

Berenice Böhlo ist Rechtsanwältin in Berlin. Sie gehört zum Vorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV), ist Mitglied bei Europäische Demokratische Anwälte (EDA), beim Flüchtlingsrat Berlin und bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl (pro asyl) sowie Mitbegründerin der Kampagne »My right is your right«. Das Interview führte Stefan Fischer-Fels.

Autor

Berenice Böhlo