Temponauten mit Geschichte
Theaterwissenschaftler Alexander Karschnia, Sängerin Nicola Nord und Musiker Sascha Sulimma sind das Performancekollektiv andcompany&Co.
„Man wird das Gefühl nicht los, man müsse noch mal zurück ins Jahr 2000 – haben wir nicht irgendetwas Wichtiges vergessen?“, fragt Alexander Karschnia im Webmagazin Berliner Gazette. – 2006 startete „Little Red“, titelgebende Protagonistin der Performance von andcompany&Co., ihre erste Bühnen-Zeitreise aus der Zukunft des 3. Jahrtausends direkt in die Nachwendezeit. Dabei ist history vor allem „herstory“: Die Geschichte der westdeutschen Pionierin Nicola Nord, die von ihren Eltern jeden Sommer ins Kinderferienlager hinter den antiimperialistischen Schutzwall geschickt wurde. Auf der Bühne rennt die Figur Little Red mit überdimensioniertem roten Kosmonautenhelm vergeblich gegen die Zeit an, im Rücken die Frage, was Kommunisten und Kommunistinnen nach dem Ende der Geschichte machen. Der Rest ist Zitat im großen Collagenbilderbogen, der sich in der Sonderzeitzone „Temponauten“-Theater entfaltet, während das Publikum im freien Fall durch Geschichtsfragmente des 20. Jahrhunderts rauscht.
Gespensterprotokolle auf Zeitleisten
In der Gespensterstunde tauchen die alten Protagonisten des Märchenbuchs „Politische Utopien“ auf: Lenin, Lennon. Pop-up. Harter Cut. Im Zitatenalbum steht Heiner Müller neben eigenen Texten, Gerichtsprotokolle der Mc-Carthy-Ära neben „Gespensterprotokollen auf Zeitleisten“ aus dem globalen Chat-Room. Dabei rückt Sascha Sulimmas Musikalisierung den großen Ideen-Remix ganz in die Nähe des szenischen Pop-Konzerts.
Mit „Run in Place“, dem auf der Stelle laufenden Körper, und der ebenso alt-futuristisch wie kindlich anmutendem Kosmonautenhelm-Ästhetik, waren bereits die Themenspuren für „Time Republic“ angelegt: „Space Race“ und Kuba-Krise als Schauplatz des Kalten Kriegs. Während auf der Bühne russisch-futuristische Mond-Fantasien der 1920er Jahre den Sputnik-Schock der USA auslösen, stirbt John Lennon zeitlos. Die physische Verausgabung im sowjetischen Sportprogramm ist kollektiv: „Run in place is an example für the community.“ Am Ende zieht der einsame Kosmonaut im All seine Kreise, während sich das ganze sozialistische Konstrukt „Sowjet Union“ unter ihm schon real aufgelöst hat.
„Das utopische Moment liegt für uns eher in der Arbeitsweise“, antwortet das Kollektiv auf die Frage nach dem politischen Anliegen hinter so viel Utopieverlust. Und bezieht sich auf den &Co.-Teil des Namens, der programmatisch auch im gruppeneigenen „manifesto“ verankert ist. In jeder Inszenierung „verschwört“ sich das Kernteam mit anderen Künstlern zum Co.-Produzieren und -Performen: Musiker, Bildende Künstler und Autoren. „Oje, was machen die da, gehen auf diese Riesenbühne und nehmen all diese Leute mit“, schmunzelt Karschnia, wenn er an den allerersten Auftritt, die TAT-Bühne am Tag ihrer Schließung 2004, zurückdenkt.
Ein Zuhause im HAU
Kathrin Tiedemann vom FFT Düsseldorf, die sie 2006 dann mit „Little Red“ ins „Freischwimmer-Festival“ brachte, haben sie damit beeindruckt. Von dort ging es unmittelbar zum kunstenfestival nach Brüssel, direkt im Anschluss zum steirischen herbst. Auch Erfolg kann über einen hereinbrechen. „Danach war erst einmal alles unklar“, sagt Nicola Nord, die stadtübergreifend arbeitende Gruppe suchte ein gemeinsames Zuhause. Das bot ihnen dann Matthias Lilienthal am HAU in Berlin, wo man auch geografisch mit der Achse Ost-West ganz richtig lag. „Was mich an der Arbeit interessiert, ist die Rekonstruktion und gleichzeitige Austreibung von so etwas wie Kommunismus: dafür erfinden sie Rituale“, sagt Lilienthal, und sein Rat, sich bei „Mausoleum Buffo“ – der ersten Arbeit mit Berliner Basisförderung, eigenem Produktionsbüroanteil und -leiterin Anne Schulz im HAU –, „selbst mehr einzubringen“, setzte das Kollektiv in einen disneyfizierten Schauprozess vorm Lenin-Mausoleum um.
Über ihrer „wichtigsten Arbeit bislang“ beleuchtet der rote Stern am dunklen Bühnenhimmel die Frage, weshalb Kommunisten so viele Kommunisten getötet haben. Mit „Mausoleum Buffo“ und der Einladung zum Impulse-Treffen 2009 war die Kommunismus-Trilogie dann zwar offiziell abgeschlossen, aber „West in Peace“ drängte sich am Jahresende noch als Kapitalismus-Kommentar hinterher. Vielleicht hatte das „Mausoleum“ als durchmusikalisiertes Gesamtcollagewerk auch die größtmögliche Form erreicht, ohne zu erstarren: Das kleine trashige Westernstadt-Setting EL DORADO ist ein Standbild aus dem Freizeitpark, das sich erst nach der 1-Euro-Spende durchs Publikum belebt.
Und die Zukunft? Fürs nächste Jahr haben auch kleinere Stadttheater angefragt: Beim „City Circus. Zero Work“, der Arbeit mit Jugendlichen für „Theaterformen“ 2009, ist das Kollektiv erstmals seinen Mitteln von außen begegnet. Fortgesetzt wird die Kollektiv-Regie mit „Wir Wunderkinder“ in Göttingen, der ersten Arbeit mit Ensemble auf großer Bühne. Und das aktuelle „Fatzer“-Projekt führt sie diesmal nicht ostwärts, sondern nach Brasilien, wo die sich bislang selbst zerfleischende revolutionäre Gruppe um Brechts Antihelden auf kannibalistische Traditionen stoßen wird. Nach dem Auslandsaufenthalt kehrt „Fatzer“ aber nach Mülheim zurück, wo er laut Brecht ja auch hingehört. Und natürlich ins HAU, FFT und nach Münster: Genauer in die Reihe „Geschichten für ein neues Jahrhundert“ im Pumpenhaus. Bei Temponauten kommt Neues nie ohne Altes.