Was passiert, wenn Berlins hippstes Theaterkollektiv eine Genie-Satire aus dem Sturm und Drang auf die Bühne bringt? Das Ergebnis ist derzeit im Hebbel-Theater zu sehen. Krystian Woznicki ist hingegangen und hat sich den Energiestößen des Wahnsinns ausgesetzt.
Soviel vorweg: Pandämonium Germanikum ist ein hochinteressanter, hochbrisanter Stoff, 1775 entstanden, doch erst 1819 erschienen. Eine Genie-Satire, die in der Halbgötterwelt der Schriftsteller und Künstler spielt. Verfasst von dem Madman des Sturm und Drang, dem Vorkämpfer eines neuen Dramas: Jakob Michael Reinhold Lenz, der auch selbst darin auftritt – als er selbst. Heute wird der Schriftsteller Lenz überschattet von der literarischen Figur Lenz, u.a. infolge von Georg Büchners nach ihm benannter Erzählung.
Goldgrube für die Gegenwart
Allein hier schon deutet sich an: Der Konnex Pandämonium Germanicum/Lenz strotzt vor Reichtum. Ein wahrer Schatz. Eine Goldgrube. Wir müssen andcompany&Co. dafür danken, uns den Zugang dazu eröffnet zu haben. Die Theatergruppe aus Berlin hat sich dieses Stoffes angenommen und ihn in “Pandämonium Germanikum: Lenz im Loop” auf die Bühne des Hebbel Theaters gebracht.
Wer die Theatergruppe ein bisschen kennt, der weiss: 1) die Mitglieder müssen Luftsprünge gemacht haben, als sie den Stoff für sich entdeckten, so sehr passt er in das experimentelle Arbeiten ihres dekonstruktiven Theaters. Der weiss also auch: 2) das ist nicht irgendein Projekt der Gruppe, es ist etwas ganz Besonderes. 3) Inhaltlich kommt hier einiges zusammen, dass der Gruppe einerseits Kontinuität ermöglicht (Thema: Deutschland, deutsche Kulturgeschichte, etc.), andererseits aber auch den Vorstoß auf Neuland: Sturm und Drang. Bislang hat sich andcompany&Co. überwiegend im 20. Jahrhundert ausgetobt.
Ja, ausgetobt. Jedoch nicht nur das. Toben UND Theoretisieren – diese beiden vermeintlich unvereinbaren modi operandi beschreiben das ästhetische Programm der Gruppe. Bei “Lenz im Loop” wohl mehr denn je. Toben und Theoretisieren heißt hier vermeintlich kopfloses, infantiles Drauflosspielen, bis zur Schmerzgrenze. Gleichzeitig jedoch auch hochintelligent, hochtourig ratio-getrieben drauflossezieren und -dozieren, auch hier ohne Rücksicht auf Verluste.
Über den Verstand hinausgehen
Auf diesem schmalen Grat entsteht eine besondere Energie, vielleicht das wichtigste, was andcompany&Co. auf der Bühne produzieren. Energie, die auf eine ganz andere Weise körperlich spürbar ist als bei einem psychologischen Theater, das den Zuschauer identitär an Helden bindet und infolgedessen Hand in Hand durch Dick und Dünn gehen lässt.
In andcompany&Co.-Stücken ist die energetische Verbindung zwischen Publikum und Bühne weitaus abstrakter, weniger greifbar, schwerer, wenn nicht unmöglich in Worte zu fassen – entladen kann sie sich im Zwerchfell oder einem plötzlichen Aufschrei der Freude oder Ungläubigkeit.
“Lenz im Loop” lebt von einer solchen Energie – sofern “leben” immer auch erschöpfen, verbrauchen und selbstzerstören bedeutet. Immerhin, es ist die Energie des Wahnsinns, die hier im Spiel ist, die die zugleich kopflosen und verkopften (aber niemals kopflos-verkopften) Figuren aufeinander übertragen: von Lenz über Baader bis Meese.
Den exklusiven Zirkel aufbrechen
Wahnsinn als produktive Größe, Wahnsinn als etwas, das uns alle im positiven Sinne reich macht und weiterbringt. Wahnsinn als negative, dumm machende Naturgewalt. Es sind die zwei Seiten der Medaille Sturm und Drang: einerseits über die Aufklärung hinausweisend, andererseits dahinter zurückbleibend, im modrigen Lagerraum des Bewusstseins. Fortschritt vs. Regression? Dynamik vs. Stillstand? Schöpfung vs. Zerstörung? So oder so: “Lenz im Loop” zieht weite Kreise bis in die aktuellste Gegenwart, bis nach Berlin-Mitte hinein. Bis in das Herz der Kultur-Republik Deutschland, die nicht ohne eine Halbgötterwelt der Lichtgestalten auskommt.
Die satirische Kraft des Originals wird mit der rituellen Wucht einer Teufelsaustreibung über- und freigesetzt. Ob Goethe oder Schlingensief: Unser Genie-Kult, der weder auf den Gebirgskämmen Berlins, noch in den Niederungen des Kulturprekariats besonders lautstarken Widerstand erfährt, bekommt mit “Lenz im Loop” eine Beule. Die Tür des exklusiven Clubs geht jetzt nicht mehr richtig zu.
Was bislang unter Verschluss stand – es geht immerhin um das Selbstverständnis der Nation – bekommt so einen Zugang. Wohlgemerkt, und da gibt es in den Reihen der Theaterkritik offenbar noch Aufklärungsbedarf, einen unbequemen Zugang. Unbequem, weil hier Zugang nicht gleich Dazugehören und Verstehen bedeutet. Sondern sich selbst und seinen Sehnsüchten nach kultureller Größe begegnen.
Berliner Gazette