Die Blackbox öffnen: Geschichte(n), auf der Bühne remixed

Frauke Pahlke, teritorija.lv, 2010-08-04

Ein Portrait des Performancekollektivs andcompany&Co. aus Berlin

1917. 1924. 1926. 1989/90. 1991. Große Erwartungen, Milleniumswende, nichts passiert. Drei Jahre später in Frankfurt am Main im wiedervereinigten Deutschland, das seine sogenannte realsozialistische Hälfte, die DDR, längst geschluckt hat und weiterhin BRD heißt, als wäre nichts geschehen: Es rappelt in der Kiste, der Theater-Blackbox.

teritorija.lv

Temponauten mit Geschichte

Anja Quickert, Theater heute, 2010-06-01

Theaterwissenschaftler Alexander Karschnia, Sängerin Nicola Nord und Musiker Sascha Sulimma sind das Performancekollektiv andcompany&Co.

„Man wird das Gefühl nicht los, man müsse noch mal zurück ins Jahr 2000 – haben wir nicht irgendetwas Wichtiges vergessen?“, fragt Alexander Karschnia im Webmagazin Berliner Gazette. – 2006 startete „Little Red“, titelgebende Protagonistin der Performance von andcompany&Co., ihre erste Bühnen-Zeitreise aus der Zukunft des 3. Jahrtausends direkt in die Nachwendezeit. Dabei ist history vor allem „herstory“: Die Geschichte der westdeutschen Pionierin Nicola Nord, die von ihren Eltern jeden Sommer ins Kinderferienlager hinter den antiimperialistischen Schutzwall geschickt wurde. Auf der Bühne rennt die Figur Little Red mit überdimensioniertem roten Kosmonautenhelm vergeblich gegen die Zeit an, im Rücken die Frage, was Kommunisten und Kommunistinnen nach dem Ende der Geschichte machen. Der Rest ist Zitat im großen Collagenbilderbogen, der sich in der Sonderzeitzone „Temponauten“-Theater entfaltet, während das Publikum im freien Fall durch Geschichtsfragmente des 20. Jahrhunderts rauscht.

Gespensterprotokolle auf Zeitleisten

In der Gespensterstunde tauchen die alten Protagonisten des Märchenbuchs „Politische Utopien“ auf: Lenin, Lennon. Pop-up. Harter Cut. Im Zitatenalbum steht Heiner Müller neben eigenen Texten, Gerichtsprotokolle der Mc-Carthy-Ära neben „Gespensterprotokollen auf Zeitleisten“ aus dem globalen Chat-Room. Dabei rückt Sascha Sulimmas Musikalisierung den großen Ideen-Remix ganz in die Nähe des szenischen Pop-Konzerts.

Mit „Run in Place“, dem auf der Stelle laufenden Körper, und der ebenso alt-futuristisch wie kindlich anmutendem Kosmonautenhelm-Ästhetik, waren bereits die Themenspuren für „Time Republic“ angelegt: „Space Race“ und Kuba-Krise als Schauplatz des Kalten Kriegs. Während auf der Bühne russisch-futuristische Mond-Fantasien der 1920er Jahre den Sputnik-Schock der USA auslösen, stirbt John Lennon zeitlos. Die physische Verausgabung im sowjetischen Sportprogramm ist kollektiv: „Run in place is an example für the community.“ Am Ende zieht der einsame Kosmonaut im All seine Kreise, während sich das ganze sozialistische Konstrukt „Sowjet Union“ unter ihm schon real aufgelöst hat.

„Das utopische Moment liegt für uns eher in der Arbeitsweise“, antwortet das Kollektiv auf die Frage nach dem politischen Anliegen hinter so viel Utopieverlust. Und bezieht sich auf den &Co.-Teil des Namens, der programmatisch auch im gruppeneigenen „manifesto“ verankert ist. In jeder Inszenierung „verschwört“ sich das Kernteam mit anderen Künstlern zum Co.-Produzieren und -Performen: Musiker, Bildende Künstler und Autoren. „Oje, was machen die da, gehen auf diese Riesenbühne und nehmen all diese Leute mit“, schmunzelt Karschnia, wenn er an den allerersten Auftritt, die TAT-Bühne am Tag ihrer Schließung 2004, zurückdenkt.

Ein Zuhause im HAU

Kathrin Tiedemann vom FFT Düsseldorf, die sie 2006 dann mit „Little Red“ ins „Freischwimmer-Festival“ brachte, haben sie damit beeindruckt. Von dort ging es unmittelbar zum kunstenfestival nach Brüssel, direkt im Anschluss zum steirischen herbst. Auch Erfolg kann über einen hereinbrechen. „Danach war erst einmal alles unklar“, sagt Nicola Nord, die stadtübergreifend arbeitende Gruppe suchte ein gemeinsames Zuhause. Das bot ihnen dann Matthias Lilienthal am HAU in Berlin, wo man auch geografisch mit der Achse Ost-West ganz richtig lag. „Was mich an der Arbeit interessiert, ist die Rekonstruktion und gleichzeitige Austreibung von so etwas wie Kommunismus: dafür erfinden sie Rituale“, sagt Lilienthal, und sein Rat, sich bei „Mausoleum Buffo“ – der ersten Arbeit mit Berliner Basisförderung, eigenem Produktionsbüroanteil und -leiterin Anne Schulz im HAU –, „selbst mehr einzubringen“, setzte das Kollektiv in einen disneyfizierten Schauprozess vorm Lenin-Mausoleum um.

Über ihrer „wichtigsten Arbeit bislang“ beleuchtet der rote Stern am dunklen Bühnenhimmel die Frage, weshalb Kommunisten so viele Kommunisten getötet haben. Mit „Mausoleum Buffo“ und der Einladung zum Impulse-Treffen 2009 war die Kommunismus-Trilogie dann zwar offiziell abgeschlossen, aber „West in Peace“ drängte sich am Jahresende noch als Kapitalismus-Kommentar hinterher. Vielleicht hatte das „Mausoleum“ als durchmusikalisiertes Gesamtcollagewerk auch die größtmögliche Form erreicht, ohne zu erstarren: Das kleine trashige Westernstadt-Setting EL DORADO ist ein Standbild aus dem Freizeitpark, das sich erst nach der 1-Euro-Spende durchs Publikum belebt.

Und die Zukunft? Fürs nächste Jahr haben auch kleinere Stadttheater angefragt: Beim „City Circus. Zero Work“, der Arbeit mit Jugendlichen für „Theaterformen“ 2009, ist das Kollektiv erstmals seinen Mitteln von außen begegnet. Fortgesetzt wird die Kollektiv-Regie mit „Wir Wunderkinder“ in Göttingen, der ersten Arbeit mit Ensemble auf großer Bühne. Und das aktuelle „Fatzer“-Projekt führt sie diesmal nicht ostwärts, sondern nach Brasilien, wo die sich bislang selbst zerfleischende revolutionäre Gruppe um Brechts Antihelden auf kannibalistische Traditionen stoßen wird. Nach dem Auslandsaufenthalt kehrt „Fatzer“ aber nach Mülheim zurück, wo er laut Brecht ja auch hingehört. Und natürlich ins HAU, FFT und nach Münster: Genauer in die Reihe „Geschichten für ein neues Jahrhundert“ im Pumpenhaus. Bei Temponauten kommt Neues nie ohne Altes.

Theater heute

HÖRT

Marcus Droß, 2006-11-07

andcompany&Co. – bereits der Name dieses Theorie-, Performance- und Theaternetzwerkes mit seiner offenen wie zugleich verbindlichen Struktur ist Programm. Seit 2003 bereist die Gruppe die Weiten der postmodernen Landschaften von Theater, Kultur und Politik, um sich jeweils dort temporär anzusiedeln/einzunisten/niederzulassen, wo die jeweils aktiven Mitglieder auf Widerstände stoßen: seien es die Pforten des 2003 geschlossenen Experimentaltheaters TAT in Frankfurt, die Außengrenzen der Europäischen Union oder, wie zuletzt, der eiserne Vorhang und über seine Öffnung das Verschwinden der politischen Utopie des Kommunismus.

Eine weitere Programmatik ist dem Namen des Netzwerkes eingeschrieben: &Co. – das Prinzip des Re-Mix, oder besser, weil materialumfassender, der Re-Animation. Denn all diese Widerstände, derer sich die andcompany&Co. annimmt, werden zu Anlässen, um Ausgegrenztes, Zurückgelassenes, überwunden Geglaubtes einzusammeln und über eigene Strategien zu einem Comeback im Hier und Jetzt einer Kultur, die alles (selbst das Ende der Geschichte) überwinden zu können glaubt, zu ermöglichen.

Damit das Vorhaben einer solchen Vergegenwärtigung nicht bloße Theorie bleibt, sondern für alle Beteiligten (den Zuschauer eingeschlossen) erlebbare Praxis wird, bedarf es weiterer Strategien, die sich die andcompany&Co. auf gemeinsam wie getrennt verlaufenden Pfaden in den vergangenen Jahren erarbeitet hat. Von ihnen soll im Weiteren anhand mehrerer Produktionen berichtet werden.

KOMM

Nicola Nord ist als Performerin und Sängerin von Beginn an im Netzwerk der andcompany&Co. fest verankert. 2004 machte sich von ihrem damaligen, temporären Arbeitsort DasArts (Amsterdam) aus auf die Suche nach Kommunistinnen und Kommunisten. Sie sucht dabei gezielt nach Menschen, die in den Zeiten des real- existierenden Sozialismus diesseits, also westlich des Eisernen Vorhangs lebten und das im festen Glauben an eine gesellschaftliche und politische Utopie des Kommunismus – zumindest bis zu jenem Tag, an dem sich der eiserne Vorhang endgültig hob, die Mauer fiel und jedes weitere Festhalten an der Utopie obsolet zu werden schien.

Im Rahmen ihrer Recherche sprachen Anhänger der letzten großen Utopie des 20. Jahrhunderts mit Nicola Nord über die Trauer, die Leere und das Schweigen, das sich verbreitet und darüber, was bleibt, wenn einem die Utopie abhanden kommt: jede Menge uneingelöster Hoffnungen und Forderungen. Archive for Utopias, lost and found nannte Nord die auto-mobile Inszenierung ihrer gesammelten Dokumente und Materialien. Damit rollte sie durch die europäische Theater- und Festivallandschaft und verschaffte den Erzählungen der einstigen Utopisten Gehör.

USSA

Vor dem Hintergrund dieser akustischen Nahaufnahmen aus dem archive for utopias, lost and found folgt die andcompany&Co. Anfang 2006 einer Einladung nach New York. Mit dabei sind Alexander Karschnia als Autor, Performer und Theoretiker und der Sound-Artist, DJ und Musiker Sascha Sulimma. Auf dem Territorium des einstigen Erzfeindes des Kommunismus will man der Frage nachgehen, von wem und wo heute überhaupt noch über den Kommunismus geredet wird, geredet werden kann.

In REVOLUTIONARY TIMING findet die andcompany&Co. mit der Erfindung des Bühnen-Chats die Antwort und inszeniert sie in Form einer Sprech-Oper im Kurzformat. Eine low-tech Theatermaschine, die der in New York lebende Objekt- und Installationskünstler Noah Fischer für die Aufführung kreiert, liefert die notwendige Hardware. Es sind Lichtmaschinen, deren Material-Sampling manchen Bühnenmeister in Angst und Schrecken versetzen dürfte, angesichts der anarchischen Lust, mit der sicherheitstechnische Kalkulation im Umgang mit Elektrizität durch handverzwirbelte Drähte und Kontakte in kleinen Holzkisten ersetzt wird.

Ein auf diese Weise gebautes Lichtpult, Scheinwerfer, eine von Hand betriebene Lichtorgel und ein Chatroom-Setting aus Fußtretleuchten schaffen auf der Bühne eine retro-futuristische Zeitblase. Darin bewegen sich die Performer der andcompany&Co., proklamieren, singen, zitieren ihre Textmaterialien, die vom sozialistischen Liedgut bis zu antikommunistische Agitationsversuchen von Ronald Reagans reichen. Vor allem jedoch werden Chats improvisiert: „Let’s discuss the greatness and retarded ness of John Lennon here! – He’s ok, but I like Jesus better! – I hate Lennon, he was a communist! – He died like a thousand years ago, get over it buddy!“

Das, was der Chat-Generation mit großer Freude vorgeworfen wird – sich nicht mehr ernsthaft um die Generierung von Sinn zu kümmern – entwickelt durch die Verlautbarung des Bühnen-Chats ein neues, enorm musikalisches Potenzial. Der Rhythmus der schnellen Wortwechsel, die assoziative Drastik der Bezüge, die eiserne Regel, dass jeweils nur einer zu Wort kommen kann, all diese Funktionen halten das Sprechspiel Chat am Laufen. Doch vor allem halten sie den Text auf der Kippe. Jeder dramaturgische Sinn- und Vermittlungswille wird im Sprech-Chat musikalisch aufgerieben, nicht ohne Widerstand der nach Sinn strebenden Worte, doch sie alle müssen gewaltige Reibungsverluste hinnehmen, zu Gunsten der energiereicher Klangkaskaden, die dabei freigesetzt werden.

BRDDR

Eingeladen zum Festival „Freischwimmer – Plattform für junges Theater“ entwickelt die andcompany&Co. im Herbst 2006 ihre Performance „little red (play) – herstory“. In den vorangegangenen Stücken bereits als Figur etabliert unternimmt darin die junge Pionierin little red alias Nicola Nord eine Zeitreise in den Irrealis : Was wäre gewesen, wenn es in der Silvesternacht 1999 die DDR noch gegeben hätte? Aus der interstellaren Perspektive des 3. Jahrtausends, so der dramaturgische Rahmen, blicken die Temponauten der andcompany&Co. auf little red’s junge Geschichte und die politische Utopie des Kommunismus zurück und konstruiert das Doku-Märchen einer Vergangenheit, die little red’s Gegenwart hätte gewesen sein können: aus history wird herstory.

Es ist nicht das erste Mal, dass little red als Nicola Nords künstlerischem alter ego dabei jenen Spagat vollführt, der für die inhaltliche Spannung sorgt. Aufgewachsen in der BRD verbringt sie, wenn alle anderen Kinder im Sommer in den Süden fahren, die Ferien in einem Pionierlager der DDR. Dort kommt es auch zu jener, für little red’s Zeitreise relevanten Verabredung mit ihren Freunden, sich in der Silvesternacht 1999 unter dem Ost-Berliner Fernsehturm zu treffen.

Die Figur der little red ist dabei nicht das einzige Material, was in Form einer multimaterialen (Re-)Animation erneut in Erscheinung tritt. Abermals wird leidenschaftlich gesprochen, gesungen und gechattet, Text und Musik aus REVOLUTIONARY TIMING liefern betriebsinterne Vorlagen, auf die sich die andcompany stützt, wenn sie zur Sprache kommen lassen will, was ihrer Meinung nach dem Schweigen über die Utopie des Kommunismus folgen könnte: ein utopisches Erzählen, aus dem Ende der Geschichte ein Anfang für neue Geschichten wird.

So sitzt die Autorin und Performerin Bini Adamczak in little red (play) dann auch an ihrer literarischen Werkbank zwischen Papier und Low-Tech-Lichtpult und erzählt den Anwesenden von little red’s Reise durch die Zeit. Dass sich dabei der literarische Raum so weit krümmt, dass Brecht, Müller und die Gebrüder Grimm gleichberechtigt nebeneinander stehen, verwundert kaum.

Gemeinsam mit Noah Fischer fertigt die Medien- und Objektkünstlerin Hila Peled den Temponauten ihre räumliche und körperliche Ausstattung. Der Bühnenraum wird zur Textlandschaft, die an die produktivsten Zeiten der russischen Avantgarde erinnert. Zwischen Noah Fischer’s schlichten Arbeitsplätzen erhebt sich eine Text-Skyline aus Pappbuchstaben an Holzlatten: HÖRT – USSAR – BRDDR – KOMM – INTE – ZU – SPUTNIK – ON – S – U – REPUBLIK. In dieser Raumstation agieren die Performer mit überdimensionalen Masken, ob als Uhr mit losen Zeigern, als monströse Micky-Maus oder als Berliner Fernsehturm (für Alexander Karschnia).

Zu rhythmischem Leben erwacht die Textstadt im Schein der Lichtorgel, die es erlaubt, über eine im Zentrum platzierte Kurbel einzelne Leuchten, am Rand des Aufführungsraumes anzusteuern. Der Reihe nach, je nach Geschwindigkeit des Kurbelns, setzt sich die Textstadt in Bewegung, wirf ihre Schatten zu allen Seiten. So wird auch hier der Text zu Musik; ergriffen vom Puls der flackernden Lichter entschwindet der Inhalt – große Musik statt schwerer Worte. Kaum kommt die Lichtmaschine zur Ruhe, stehen die Worte in ihrer gebrochenen, pappkameradenhaften Unbeholfenheit wieder verloren im Raum herum oder versammeln sich verschämt in einer Ecke.

Es ist die enorme Souveränität der andcompany&Co., dass sie ihrem Material, ihren Mitgliedern und Zuschauern gestattet, sich permanent zu verändern. Denn alle Bühnenhandlungen, die immer (auch) akustische sind, stellen jedes Geschehen im Augenblick des Ereignisses dem Vergessen anheim. Erinnern (machen) und Vergessen (machen) sind gleichermaßen zentral. Jede Handlung, die sich eines historischen (Gedächtnis-) Materials annimmt, beinhaltet gleichermaßen eine Strategie, es wieder aus Auge und Ohren zu verlieren

Wenn Alexander Karschnia versteckt hinter einer Dagobert Duck-Maske die Frage stellt, woher nur all die Kommunisten kommen (Antwort: „Nobody knows.“) oder er sich bemüht, Bini Adamczak’s poetische Prosa über das Wollen und Wirken der Temponauten auf eine höhere Sinnstufe (in englischer Sprache) zu versetzen, oder ob Walt Disney’s Aussagen vor dem Komitee für unamerikanische Aktivitäten in einem nicht enden wollenden Fragenkatalog und Ronald Reagan’s Angst vor den Kommunisten im Bühnen-Chat zermahlen werden, trägt dies bei aller Schärfe der Inhalte auch zu ihrer Auflösung bei.

Wenn das noch nicht reicht, wird wieder die Lichtorgel gedreht oder man rennt, Hauptsache, Energie wird freigesetzt. All das bleibt stets ein Spiel, wirkt dabei angemessen ungeprobt, bleibt provisorisch, ohne Antwort. Es ist ein Spiel mit dem Imperfekten, was die Einstellung des erlösenden Sinns getrost auf jenen hellen Tag in ferner Zukunft verschieben kann und sagt: jetzt ist nur das, was ist. Das Hier und Jetzt. Das ist kein falsches Versprechen mehr, das ist wahrhafter Trost.

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Archivare im kosmischen Fundbüro

Marcus Droß, herbst. Theorie zur Praxis, Magazin zum steirischen herbst 07, 2007-09-01

Der Kommunismus ist tot, das weiß seit 1989 jeder. Aber kann ein Gespenst überhaupt sterben? Das internationale Performance-Kollektiv andcompany&Co. hat in der alten wie in der neuen Welt, im Weltraum und im Irrealis recherchiert – und antwortet mit einem entschiedenen Nein. So wird in den eigenen Bühnenstücken der Utopie ein Refugium gebaut, von der russischen Avantgarde über Sputnik-Träumen zu John-Lennon-Chats.

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Sputnikschock im deutschen Theater

Esther Boldt, Nachtkritik, 2007-11-24

Bildet Banden! Oder besser: eine Band. Weil das Sprechen mit Zitaten zu ihnen gehört, kann man über andcompany&Co. vielleicht nur mit geliehenen Worten reden. Tocotronic singt: „Wir sind viele – jeder einzelne von uns.“ Und andcompany&Co. macht dazu Theater. Das Performancekollektiv, 2003 in Frankfurt am Main gegründet, versteht sich als offenes, aber verbindliches Netzwerk. Den Kern bilden Alexander Karschnia, Autor und Theaterwissenschaftler, Nicola Nord, Sängerin und Performerin sowie Sascha Sulimma, Musiker und DJ.

Ihr erstes großes Stück „for urbanites – nach den großen Städten“ zeigten sie 2004 zur Schließung des Frankfurter Theaters am Turm (TAT). Auf der Bühne: Zehn Performer und ein Klavier. Am Ende bestückten sie sich selbst und das Publikum mit Papierhüten zum Zeichen eines neuen Bundes und marschierten vor das Bockenheimer Depot. Zwei kletterten die Fassade empor und entfernten aus dem Schriftzug TAT die beiden Ts: „Das TAT ist tot, es lebe das A.“ A wie Anfang. A wie andcompany&Co. Aber das Ende des geschichtsträchtigen Avantgardetheaters mit dem Beginn von etwas Neuem gleichzusetzen, bietet sich an und verbietet sich zugleich.

Alle drei stammen sie aus Frankfurt, Alexander Karschnia und Nicola Nord studierten dort Theater-, Film- und Medienwissenschaften, Nicola Nord und Sascha Sulimma spielten in einer Band. 2004 gingen sie nach Amsterdam, weil Nord dort ein Künstlerstipendium in DasArts (The Amsterdam School for Advanced Theater Research and Dance Studies) erhielt. Als ihre „Homebase“ in Deutschland bezeichnen sie das Düsseldorfer Forum Freies Theater (FFT), das viele ihrer Produktionen koproduziert.

Offengelegte Theatermaschinerie

Nach dem andco-Prinzip haben sie bisher unter anderem mit Fotografen, Autoren, Bildenden Künstlern und Musikern zusammengearbeitet. „In gewisser Weise muss man dann das Rad immer wieder von neuem erfinden“, so Karschnia, „aber wenn es gut geht, kann man auch eine gemeinsame Sprache entwickeln. Wir glauben fest an den ‚general intellect‘ (Marx). Es gibt Gruppendenken!“ Kollaboration ist bei ihnen nicht nur ein Diskursmodewort. „Wenn man mit uns zusammenarbeitet, wird man automatisch zur Ko-Autorin, Ko-Regisseurin… Uns verbindet die Faszination für ein Thema, dazu wird dann geforscht, recherchiert, gegoogelt, daraus entstehen dann Texte, Musik…“

Dass nicht jeder andco-Produzent automatisch ein guter Performer ist, versteht sich von selbst, doch die entstehende Spannung ist beachtlich und die Chance zu Scheitern inbegriffen. Ihre Bühnensprache aber besitzt Wiedererkennungswert: Ihre Bühnen sind ausgeräumt, die Performer sitzen oder stehen an ihren Plätzen wie an Instrumenten, ausgestattet mit Textbüchern, Mikrophonen, Lampen oder Laptop. Denn Musik und Ton werden als Performance begriffen, die Theatermaschinerie offen gelegt. Umso mehr, seitdem der New Yorker Künstler Noah Fischer dabei ist.

Kein Erich Honecker ohne Dagobert Duck

Während eines Stipendiums in New York 2006 produzierten sie „Revolutionary Timing“, und Fischer entwarf dafür eine Lichtmaschine aus Stehleuchten und nackten Glühbirnen, gesteuert von einer Lichtorgel. Mit dieser Haptik, ihrer grobschlächtigen Materialität mutet die Bühne bisweilen an wie das „Raumschiff Orion“: Rettungslos anachronistisch und ziemlich futuristisch zugleich.

andcompany&Co. sucht das Theater für die Gegenwart, das mit Netzen und „dotcoms“, aber ohne Kopierschutz operiert. Sie bearbeiten politische, historische und (pop)kulturelle Themen des 20. und 21. Jahrhunderts, jedoch nie isoliert voneinander – kein Mauerfall ohne die Beatles, kein Erich Honecker ohne Dagobert Duck. Zitate markieren Verwandtschaftslinien, die – auch hier ist der Name Programm – Wahlverwandtschaften sind. Text und Musik folgen dem Prinzip von Remix und Loop, von Verdopplung und Variation, Wiederholung und Zerschneidung. Monteverdi und Kurt Weill, Ronald Reagan und Heiner Müller. Bei Alexander Karschnias Textgeflechten gilt der Rhythmus der Sprache ebensoviel wie ihre Buchstäblichkeit, sie deklinieren Wortspiele durch, klopfen sie assoziativ nach Bedeutungsmehrwert ab und werden dabei immer auch Musik.

Mit der Autorin Bini Adamczak kam bei „little red (play): herstory“ (2006) eine Stimme dazu, die sich einfügt und doch einen anderen Klang mitbringt. Auch auf der Bühne spielt Sprache eine prominente Rolle: Beim TAT-Tanz der Buchstaben um den Turm oder beim Bühnenbild von „little red“, das von der isrealischen Künstlerin Hilal Peled stammt. Eine Stadtlandschaft aus Buchstabentürmen, die vor Noah Fischers flackerndem Licht ihre langen Schatten werfen und fiktionale Bündnisse schaffen: USSR, BRDDR. Die Rede mit fremden Zungen lallt bisweilen, an Schärfe verliert sie nicht.

Zugvögel auf Kollisionskurs

„Nicht politisches Theater machen, sondern Theater politisch machen!“ agitiert Alexander Karschnia. Bei andcompany&Co. heißt es auch, sich auf die Suche nach Utopia zu begeben, nach dem Ende der großen Erzählungen den Fluchtpunkt in der Gegenwart zu verorten. Ihre Performances stellen Fragen, situieren sich innerhalb von Diskursen und übertreten sie zugleich. Wie bei einem guten Popsong oder bei David-Lynch-Filmen wird das Zitat dabei nicht Selbstzweck, gerinnt das Diskursgemetzel nicht zur Pose, sondern wird umgehend in den Rhythmus der Performance transportiert.

So montierten sie in „for urbanites“ die Historie und Gegenwart der Stadt Frankfurt und ihres Theaters mit Brechts Goldgräberstadt Mahagonny: „Ein Gespenst geht um, das Gespenst der Krise: Stadtsterben, Theatertod.“ Und erklärten kurzerhand die Nachbarstadt Offenbach – „off off“ – zur Utopie. In „Europe an Alien“ (2005/06) war es die Suche nach der europäischen Identität in Geschichte und Gegenwart, dort brachten sie EU-Europa und mythologische Vorgeschichte, Schengen und Dionysos, Flüchtlingsströme und die Wanderung der Zugvögel auf Kollisionskurs.

Kinder des Kalten Krieges

In den letzten zwei Jahren ist es das Ende des Kommunismus, das sich die Kinder des Kalten Krieges vornehmen – in „Revolutionary Timing“ und im daraus entwickelten ersten Teil ihrer Kommunismus-Trilogie „little red (play): herstory“, der im Rahmen des Festivals Freischwimmer 2006 produziert wurde und seither unter anderem in den Berliner Sophiensaelen, auf Kampnagel in Hamburg und beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel zu sehen war.

Darin drehen sie das Rad der Zeit zurück, machen aus dem Ende der Geschichte den Anfang einer Geschichte, aus history herstory. Nicola Nord erzählt als „little red“ von ihrer Kindheit und Jugend als „westdeutsches Kommunistenkind“, das in den Sommerferien in die DDR fuhr und die Jahrtausendwende mit den Pionierfreunden in Berlin feiern wollte. Doch die Utopie starb zuerst, das Lied vom Ende des Kommunismus in Europa erklang. Ein Gespenst geht um… „little red“ aber verlängert die Geschichte, negiert den Mauerfall, lässt die Utopie wieder auferstehen inklusive Feuerwerk, Rotkäppchen und Showdown in der DDR.

Tanz ins Weltall

Beim Steirischen Herbst in Graz produzieren sie derzeit mit insgesamt sieben andco-Produzenten den zweiten Teil der Trilogie, „Time Republic“ hat am 28.9. Premiere und greift zum 50. Jahrestag den Sputnik-Schock auf. Tanz ins All. Neben den zahlreichen Stückproduktionen sorgen so genannte andco-Labs, Laboratorien dafür, dass die Zeit nicht stehen bleibt. Schnelle, dreckige Arbeiten, bei denen mit unterschiedlichen Partnern Selbst- und Fremdversuche gestartet werden.

Ihre Performances lassen sich als Fortsetzungsgeschichten sehen, Re-mixe, postmodern und postdramatisch. Vielleicht ist diese stationäre Entwicklung, die Selbstwiederholung auch die einzig mögliche Strategie, auf einem Kunstmarkt zu überleben und zugleich Qualität zu behaupten, der ständig neue Produkte fordert: So machen andco mit Deleuze/Guattari „Produktion von Produktion“ wie es das Gründungsmanifest der Truppe versprach. Und weil andco nicht ohne Programmatik sein könnten, hat Alexander Karschnia für die Grazer Premiere keine kleine Ansage gemacht. Es werde höchste Zeit für einen Sputnik-Schock im deutschen Theater. Nun denn: Höchste Zeit für einen theatralen Tanz in Richtung All, der sich vor Pathos, Poesie und politischer Positionierung nicht fürchtet.

Nachtkritik

Über andcompany&Co.

Esther Boldt, Goethe.de, 2010-06-06

Mai 2004. Das Frankfurter Theater am Turm wird geschlossen: „Stadtsterben, Theatertod.“ – so klingt der Abgesang der Avantgarde. Dazu tanzen fünf Performer einen albern-erhabenen Sirtaki, den Tanz der Buchstaben um den Turm. Es ist das erste große Projekt von andcompany&Co., „for urbanites – nach den großen Städten“. Darin wird die Geschichte des TAT und des Viertels Bockenheim mit Brechts Goldgräberstadt Mahagonny kurzgeschlossen: Ist das Gold, respektive die Kultur, alle, so ziehen die Goldgräber weiter. Das internationale Künstlerkollektiv jedoch zog zunächst nach Amsterdam, dann nach Berlin, wo es artist-in-residence am HAU ist. Seine Stücke liefen unter anderem beim Brüsseler KUNSTENFESTIVALDESARTS (2007), beim steirischen herbst in Graz (2007), Wiener Festwochen (2008) beim Festival Impulse (2009) und beim Dortmunder Festival favoriten 08 – Theaterzwang (2008), wo „little red“ den Preis des NRW-Kultursekretariats erhielt.

andcompany&Co. wurde 2003 in Frankfurt am Main gegründet von dem Autor und Theaterwissenschaftler Alexander Karschnia, der Sängerin und Performerin Nicola Nord und den Musiker und DJ Sascha Sulimma. Der nach vorn und hinten Anschluss schaffende Name ist Programm: Es versteht sich als offenes Netzwerk, das mit Künstlern verschiedener Sparten kollaboriert – bisher beispielsweise mit der Autorin Bini Adamczak, den bildenden Künstlerinnen und Künstlern Noah Fischer, Hila Peled und Jan Brokof, dem Komponisten Thomas Myrmel und dem Neue Musik-Ensemble MAE. Dabei ist Teil des Spiels, dass die Kollaborateure als Performer mit auf der Bühne stehen. In Laboratorien, sogenannten &Co.LABs, erarbeitet andcompany&Co. kleine, schnelle Projekte mit wechselnden Partnern, initiiert als Versuchsanordnung für eine gemeinsame künstlerische Zukunft.

Seine Stücke sind Arsenale einer Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie führt von Mahagonny aus über die (Be-)Gründung Europas („europe an alien“, 2006) zur ‚Trilogie des Wiedersehens mit dem 20. Jahrhundert‘ über Geschichte und Ende des Kommunismus („little red (play): ‚herstory‘“, 2006; „time republic“, 2007; „Mausoleum Buffo“, 2009) und das Hamlet’sche Drama des tatenlosen Prinzen („showtime. trial & terror“, 2008) zum kapitalen letzten Sommer der Indianer („West in Peace“, 2009), einem brasilianisierten Brecht („FatzerBraz“ 2010) und einem aktualisierten Lenz („Pandämonium Germanicum: Lenz im Loop“ 2011). In einer offensiven Assoziationspolitik werden die kollektiven Dachbodenschätze durchstöbert, kein Fundstück ist ungelöst vom anderen denkbar:

Der Mauerfall und die Beatles, Erich Honecker und Dagobert Duck, John Lennon und Vladimir Lenin, Karl Marx und Karl May werden zu einem dichten Verweissystem verknüpft, einem Schlagabtausch der Zitate, die Verwandtschaftslinien anzeigen. So spuken die untoten philosophischen, politischen und popkulturellen Ideen von gestern vielstimmig durch ein Theater für die Gegenwart, das mit Netzen und dotcoms, aber ohne Kopierschutz operiert. Was die Recherche zutage fördert, wird nach den musikalischen Prinzipien von Sampling und Remix verarbeitet: Himmelsrichtungen, die Ideologien und Utopien anzeigen, werden geschreddert, in neue Kontexte gestellt und verschoben.

Die Stücke von andcompany&Co. sind Geisterbahnfahrten durch kollektive Gedächtnishalden, und im Wieder- und Widersprechen philosophischer und ästhetischer Versatzstücke von gestern werden Utopiefetzen plötzlich wieder vorstellbar. In den verschollenen, wiederversprochenen Phrasen wird post-postmodern die Wirkmächtigkeit der Sprache überprüft, ihre Fähigkeit, Realitäten zu schaffen: „How to make Ernst with words?“, hieß es 2006 in der Lecture-Performance „Kriegserklärung“. Wie kann aus den Zitaten Ernst werden, Tun aus Tun-als-Ob? Damit werden auch die Bedingungen des Performens selbst zur Disposition gestellt.

Seine kollaborative Arbeitsweise schließt eng an die Verhandlungsgegenstände an, der künstlerische Prozess ist praktische Utopieproduktion: Er behauptet Heterogenität und Anschlussfähigkeit, viele Kollaborateure haben in der Bühnensprache ihre Spuren hinterlassen – und umgekehrt. Und doch sind die Markenzeichen stets unverkennbar. Die ausgeräumten Bühnen sind Textlandschaften und Erinnerungsräume, in denen sich die Handlungen der Performer ablagern, sie sind Spielräume, Materialsammlungen und Recherchewüste, in denen (fast) alles von Hand gemacht wird. Denn die Lichtmaschinerie aus Glühbirnen und anderem Gefunzel wird von den Künstlern gefahren, die komplexe Klangmaschinerie aus Gongs, einem Kinderklavier, singenden Telefonhörern und vorproduzierten Remixes von hier aus abgespielt: Die Bühnenmaschine ist Performance. An- und abknipsend werden Geschichten erzählt und wird Geschichte gemacht, mit Walter Benjamin führt die Reise in die Zukunft durch die Reste und Spuren der Vergangenheit: Blick zurück nach vorn! So betreiben andcompany&Co. Temponautentheater mit Performern als Zeitreisenden, die den Zeitstrahl als Absprungschanze in eine Zukunft benutzen.

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