FatzerBraz von Bertolt Brecht&Co.
Noch ist Lulas Nachfolgerin Dilma, ehemals Guerillakämpferin der im Untergrund entstandenen brasilianischen Arbeiterpartei PT, nicht ganz ins Präsidentenamt gewählt, da zeigt die Berliner Performanceguerilla andcompany&Co. auch schon, was übrigblieb von der tropikalischen Revolution. Am Vorabend des zweiten Wahlgangs erlebt Berlin am Beispiel von Brechts Fragment vom „Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ (1927), was aus der Welt werden könnte, wenn sie nach allen Regeln des „Antropophagen Manifests“ (1928) von Oswald de Andrade von Brasilien verschlungen würde.
Gemeinsam mit vier Mitstreitern aus brasilianischen Aktions- und Theatergruppen erarbeitete die andcompany&Co. in São Paulo aus dem umfangreichen Fatzer-Material die zweisprachige, antropophagische Performance „FatzerBraz“ – als Spaziergänge, Expeditionen, Vertilgungen und Verherrlichungen eines asozialen, anarchischen „Helden ohne Charakter“ (wie es über Macunaima heißt, den emblematischsten Protagonisten der brasilianischen Moderne). Brechts Deserteure aus dem Ersten Weltkrieg treffen auf Marighellas Stadtguerilla, und die RAF auf den Zorn Gottes, Fitzcarraldo&Co.
Die Fragen nach Desertion, revolutionärem Defätismus und Guerillakampf stehen im Zentrum des »Fatzer«-Fragments von Bertolt Brecht. Eine Gruppe Soldaten des Ersten Weltkriegs beschließt, »keinen Krieg mehr zu machen« und versteckt sich in Mülheim an der Ruhr, um auf einen allgemeinen Aufstand zu warten. Bevor es jedoch zu einer Erhebung gegen den Krieg kommt, zerfleischt sich die Gruppe gegeseitig. Die Situation im Untergrund erinnert an das Schicksal der Stadtguerilla, deren »Minihandbuch« Carlos Marighella verfasst hat, ein brasilianischer Abgeordneter und Widerstandskämpfer gegen die Militärdiktatur. Im Milieu der Studentenbewegung wurde dieses »Handbuch« auch in Deutschland folgenreich (Bewegung 2. Juni, RAF).
Diese Texte bilden den Ausgangspunkt für »FatzerBraz«, die neueste Inszenierung von andcompany&Co. Das internationale Künstlerkollektiv um Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma inszeniert das Stück in São Paulo gemeinsam mit brasilianischen Künstlern. Diese Zusammenarbeit bietet die Chance einer gegenseitigen Verfremdung: von São Paulo und dem Ruhrgebiet, Erstem Weltkrieg und Stadtguerilla, revolutionärer Bewegung und Reformregierung. Dabei geht es darum, mit Hilfe der stark entwickelten brasilianischen Brecht-Tradition Wege zu einem »anderen«, tropikalischen Brecht zu finden. Der kulturelle und ideologische »Remix«, charakteristisch für die Arbeiten von andcompany&Co., lässt neue Formen der Aneignung und Einverleibung zu, die in Brasilien eine lange Tradition haben. Am Ende wird es darum gehen, Fatzer zu fressen…